Interview mit Kerstin Müller, Gewinnerin des Faktor-5 Jury-Preis 2019
Kerstin Müller ist Mitglied der Geschäftsleitung im «baubüro in situ» und Präsidentin des Verein Bauteilnetz Schweiz. 2019 hat hat das Baubüro mit dem Projekt «Aus Alt mach Neu» den Faktor-5 Jury-Preis gewonnen.
sun21: «Aus Alt mach Neu» – der Titel des Projektes, das letztes Jahr die Jury überzeugt hat und mit dem Faktor-5 Jury-Preis 2019 ausgezeichnet wurde. Was ist das Ziel dieses Projektes?
Kerstin Müller: Gerne erinnere ich mich an die Riesenfreude, als wir diesen Preis bekamen. Das hat uns enormen Rückenwind gegeben in der Anfangsphase. Das Lysbüchel-Projekt war das erste, bei dem wir in grossem Massstab aus geretteten Bauteilen und Materialien etwas Neues erstellt haben: rund 1000 m2 Fassadenfläche. Das Neue hierbei war, dass wir mit Material und Bauteilen, die normalerweise entsorgt werden, in den Neubau gegangen sind. Eigentlich haben wir schon immer Bestehendes gerettet und mit möglichst minimalen Eingriffen verändert: ganze Industrieareale, Gebäude oder auch Bauteile und Materialien. Das übergeordnete Ziel war Ressourcen zu schonen sowie graue Energie und Treibhausgasemissionen einzusparen.
Haben Sie schon Erkenntnisse, in welchem Verhältnis der gesamte Aufwand, solche Objekte und Bauteile zu retten und sie wieder in Gebäude einzubauen, zu den eingesparten Ressourcen oder/und dem CO2 Ausstoss, im Vergleich zu neuen Bauteilen, steht?
Mittlerweile haben wir eine Suchmethodik entwickelt und ein Netzwerk aufgebaut, das wir ständig ausbauen. Suchen und Rückbauen wird so immer einfacher. Interessant für die lokale Bauwirtschaft ist ja, dass die Wertschöpfung in der Schweiz bleibt. Unternehmen, die sich für die Nachhaltigkeit engagieren wollen, können hier neue Geschäftsfelder finden.
Das Zwischenlagern ist ein Knackpunkt. Meist kann nicht zeitgenau Material rückgebaut und am neuen Ort wiedereingebaut werden. Wir müssen also Lagerflächen finden. Ich wünsche mir, dass wir an der Stelle Unterstützung von der Abfallwirtschaft bekommen. Schliesslich wird der Deponieraum knapp und wir geben Material ein zweites Leben, das sonst Deponien füllen würde. Zum CO2: Derzeit ist das Projekt H118 im Bau, eine 3-geschossige Aufstockung aus 80 Prozent wiederverwendetem Material auf dem Lagerplatz in Winterthur. Dort haben wir mit Ökobilanzen gearbeitet und festgestellt, dass es bis dato keine Berechnungsmethodik gibt, die den CO2-Gehalt von wiederverwendetem Material quantifiziert.
Eine neue wissenschaftliche Arbeit spielt die verschiedenen Berechnungs-Ansätze exemplarisch am H118 durch und wir stellen fest, dass die CO2-Einsparungen mindestens 50 Prozent gegenüber einem Neubau betragen.
Der Gebäudesektor ist für ein Drittel der CO2-Emissionen der Schweiz verantwortlich. Welche Herausforderungen sehen Sie im Zusammenhang mit dem Ziel der Erreichung der Klimaziele für den Gebäudesektor?
Wir wissen viel darüber, wie Energie- und Treibhausgasemissionen im Betrieb eingespart werden können. Hier wurden riesige Fortschritte gemacht; diese müssen wir jetzt umsetzen. Doch um das Ziel zu erreichen, möglichst wenig Treibhausgase beim Betrieb des Gebäudeparks auszustossen, braucht es ein «Mehr» an Material – beispielsweise mehr Dämmstoffe und Gebäudetechnik. Die Prozess-Energie, die benötigt wird, um dieses «Mehr» herzustellen, wird derzeit noch vorwiegend mit fossilen Brennstoffen gewonnen. Deswegen ist die Wiederverwendung gerade heute auf dem Weg zur Klimaneutralität so wichtig. Denn was es schon gibt, muss nicht unter Energieaufwand und CO2-Ausstoss neu hergestellt werden.
Die Grössenordnungen verschieben sich dahin, dass wir für Erstellung+Rückbau eines Gebäudes gleich viel CO2 ausstossen wie für den Betrieb des Gebäudes über seine Lebenszeit. Diese Tatsache können wir nicht länger ignorieren, wenn wir unsere Klimaziele im Ge- bäudepark erreichen wollen.
Graue Energie und graue Treibhausgasemissionen werden an Bedeutung gewinnen und Einzug in das Energiegesetz finden, da bin ich mir sicher. Das Weiterbauen am Bestand steht vor Ersatzneubau. Und das Material bekommt wieder einen Wert – wie es ihn historisch hatte.